Hochsensibilität erkennen und nutzen

Bist du hochsensibel?

Hochsensible Menschen reagieren stärker auf laute Geräusche, grelles Licht, intensive Gerüche oder grosse Menschenmengen als andere. Sie nehmen kleinste Nuancen und unterschiedlichste Details ihrer Umgebung oder in sich selbst wahr. Sie fühlen sich in tiefgründigen Gesprächen und mit komplexen Aufgaben besonders wohl. Gleichzeitig geraten sie aber schnell in eine Überreizung und sehnen sich dann nach Ruhe und Rückzug. Hochsensible nehmen Reize nicht nur intensiver wahr, sondern verarbeiten sie auch tiefer. Das kann zu einer Reizüberflutung führen, die körperliche oder psychische Stressreaktionen auslöst. Wenn du dich in dieser Beschreibung wiedererkennst, gehörst du möglicherweise auch zu den Menschen mit erhöhter Sensibilität. Aber was bedeutet Hochsensibilität überhaupt? Wie zeigt sie sich und wie kannst du damit umgehen?

Was ist Hochsensibilität?

Sensibilität ist die Fähigkeit, Reize aufnehmen und verarbeiten zu können. Bei der Hochsensibilität ist diese Fähigkeit besonders ausgeprägt. Das heisst, Hochsensible nehmen innere und/oder äussere Reize intensiver wahr und verarbeiten diese auch tiefer. Bei den Reizen kann es sich um Sinnesreize, Gefühle, Gedanken sowie Empfindungen im Umgang mit anderen Menschen handeln.

Wichtig ist zu verstehen, dass es sich nicht um eine Krankheit oder um eine psychische Störung handelt, sondern um einen Wesenszug respektive eine Veranlagung. Eine Veranlagung zeigt sich bereits in der Kindheit und verändert sich im Erwachsenenalter nicht grundlegend. Die Hochsensibilität kann folglich als ein stabiler Wesenszug angesehen werden. An dieser Stelle gilt es auch zu verstehen, dass es sich bei der Hochsensibilität um ein Spektrum handelt und nicht in den Kategorien "hochsensibel" versus "nicht hochsensibel" gedacht wird. Die Hochsensibilität ist als das obere Spektrum auf der Skala der Reizwahrnehmung und -verarbeitung zu verstehen.

Wie zeigt sich Hochsensibilität?

Nach derzeitigem Stand der Wissenschaft sind etwa 15 bis 20 Prozent aller Menschen hochsensibel. Doch warum fühlen sich Hochsensible oft so allein mit ihrer Besonderheit? Eine Erklärung dafür lautet, dass Hochsensibilität in manchen Situationen gar nicht auffällt. Oder dass einige Hochsensible ihre Empfindsamkeit verstecken, um sich anzupassen.

Die nordamerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron begann in den 90er Jahren im Bereich der Hochsensibilität zu forschen und lässt sich als Pionierin auf diesem Gebiet bezeichnen. Auf Basis ihrer Forschungsarbeiten identifizierte sie vier Dimensionen der Hochsensibilität:

  • Tiefe und gründliche Verarbeitung von Informationen (lange dauerndes und intensives Verarbeiten von Erlebnissen)
  • Leichte körperliche Überstimulierbarkeit (geht mit einer körperlichen Anspannung einher)
  • Emotionale Berührbarkeit und hohes Empathievermögen
  • Hohe sensorische Empfindsamkeit (man ist selbst für subtile Reize empfindsam)

Hochsensible können eine oder mehrere der vier Dimensionen besonders ausgeprägt haben. So kann eine Person beispielsweise eine sehr hohes Empathievermögen aufweisen, aber auf sensorische Reize normal reagieren.

Umgang mit Hochsensibilität

Für Aussenstehende ist es oft schwierig, die Wahrnehmungen und Gefühle hochsensibler Menschen nachzuvollziehen. Umso wichtiger ist es für Hochsensible, ihr Umfeld über das Thema aufzuklären. Fachbücher, Artikel oder Podcasts können hilfreich sein, um das Umfeld auf sachlicher Ebene aufzuklären. Denn Wissen über das Thema Hochsensibilität schafft Verständnis für die Bedürfnisse der Betroffenen.

Ist das Verständnis vorhanden, können Wege gefunden werden, die Grenzen und Bedürfnisse hochsensibler Menschen zu respektieren. Diese Bedürfnisse sind sehr individuell und unterscheiden sich je nach Art der Hochsensibilität. Daher ist es wichtig, offen und ehrlich über die Bedürfnisse zu sprechen. Es geht nicht darum, einseitig Rücksicht zu nehmen. Sowohl die hochsensible Person als auch ihr Umfeld können dazu beitragen, eine optimale Umgebung zu schaffen, in dem sich alle Beteiligten wohl fühlen.

Als hochsensible Person musst du nicht alles über dich ergehen lassen. Erlaube dir, dich aus Situationen zurückzuziehen, die dich überreizen. Manchmal bedeutet das, einmal mehr "Nein" zu sagen. Oder die Mittagspause allein bei einem Spaziergang zu verbringen, statt in einem überfüllten Restaurant. Doch Rückzug im Alltag ist nicht immer möglich. Umso wichtiger ist es, sich am Feierabend bewusst Zeit zu nehmen, um zur Ruhe zu kommen. Natürlich hat auch das Umfeld Handlungsspielraum, um die Reizüberflutung für Hochsensible zu reduzieren. Zum Beispiel, indem die Musik leiser gedreht wird oder der Partner bzw. die Partnerin für eine gewisse Zeit die Kinderbetreuung übernimmt und so ein Zeitfenster für Ruhe schafft. Wichtig ist an dieser Stelle eine gute Mischung aus Rücksichtnahme des Umfelds und Rückzug der Hochsensiblen aus reizüberflutenden Situationen.

Hochsensibilität im Beruf

Nicht immer ist sind Rückzug oder Ruhephasen möglich. Deshalb stellt der Arbeitsalltag für viele Hochsensible eine Herausforderung dar. Die Hochsensibilität ist, wie bereits erwähnt, ein stabiler Wesenszug, weshalb es auch im Beruf keinen Sinn macht, dagegen ankämpfen zu wollen. Genauso wenig produktiv ist es, sich zu mehr Disziplin zu zwingen, wenn erste Zeichen einer Überreizung auftreten. Viel sinnvoller sind regelmässige kurze Pausen – und zwar bevor die Überreizung eingetreten ist. Denn hat die Reizlast ein gewisses Mass übertroffen, dauert es in der Regel länger, um wieder auf ein normales Ausgangsniveau zurückzufinden, als wenn frühzeitig Pausen eingeplant werden.

Das Fazit für Hochsensibilität im Beruf lautet daher, sich ein Arbeitsumfeld zu suchen, dessen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen hochsensibler Menschen entsprechen. Oder zumindest Massnahmen zu ergreifen, um das Reizniveau auf ein verarbeitbares Mass zu reduzieren. Solche Massnahmen kann beispielsweise der Rückzug aus einem Grossraumbüro in ein kleines Büro sein, in dem die Tür bei Bedarf geschlossen werden kann. Oder das Tragen von Kopfhörern ohne Musik. Je nach Vertrauensverhältnis zu Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen kann ein Gespräch helfen, das Arbeitsumfeld nach den Bedürfnissen der Hochsensiblen zu gestalten.

Hochsensibilität und Extrovertiertheit

Laut E. Aron gibt es unter den Hochsensiblen die Untergruppe der extrovertierten Hochsensiblen. Dies trifft auf rund 30 Prozent der Menschen mit erhöhter Sensitivität zu. Auf den ersten Blick ist die Hochsensibilität bei dieser Untergruppe gar nicht so offensichtlich. Denn sie zeigen sich gesellig, neugierig und nach aussen gewandt. Sie haben vielseitige Interessen, sind gesprächig, begeisterungsfähig und offen für Neues, Eindrücke sowie Anregungen. Und dies, obwohl sie von den Eindrücken schnell überreizt sind. Die extrovertierten Hochsensiblen haben eine grössere Toleranz gegenüber Menschenmengen und fühlen sich schnell von einfachen Abläufen sowie Routine gelangweilt. Auch Warten zählt nicht zu den Dingen, die sie gerne tun. Daher wirken sie häufig, als seien sie ständig auf dem Sprung. Gleichzeitig können sich extrovertierte Hochsensible dadurch aber auch selbst überfordern. Aufgrund dieser kontroversen Eigenschaften befinden sie sich in einem ständigen Spagat zwischen dem Bedürfnis nach Extraversion und Rückzug. Keine leichte Aufgabe!

Hochsensibilität als Stärke erkennen

Die Eigenschaft der Hochsensibilität kann sowohl für die betroffenen Personen als auch für die sozialen Gemeinschaften, in denen sie leben, viele Vorteile mit sich bringen. Hochsensible Menschen nehmen ihre Umwelt intensiver wahr und können dadurch feine Nuancen und Details erfassen, die anderen entgehen. Sie können besser auf die Bedürfnisse und Gefühle anderer eingehen und haben eine hohe Empathiefähigkeit. Sie sind oft in der Lage, Konflikte frühzeitig zu erkennen, zu vermeiden oder zu lösen. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig zu betonen, dass Hochsensible sich nicht in der Verantwortung sehen müssen, alle Konflikte zu lösen, nur weil sie diese wahrnehmen.

Durch die intensive Wahrnehmung von Gefühlen und Empfindungen können sich Hochsensible an Schönem erfreuen und haben einen ausgeprägten Sinn für Ästhetik. Wie bei vielen Dingen gibt es auch bei der Hochsensibilität zwei Seiten der Medaille. So können Hochsensible ihre Veranlagung als Gabe anerkennen, die es ermöglicht, auch die schönen Seiten des Lebens besonders intensiv wahrzunehmen.

Tipps und Empfehlungen für den Umgang mit Hochsensibilität

  • Erlaube dir, aus Situationen auszutreten, die dich überreizen - du musst nicht alles ertragen.
  • Baue nach Möglichkeit bewusste Pausen im Arbeitsalltag ein. Eine Pause kann bereits ein kurzes Innehalten sein. Egal wie lang die Pause ist, mache dir klar, dass du für einen Moment aus der Aktivität heraustrittst und deinem Körper, Geist und Seele Raum gibst.
  • Gönne dir am Abend eine Meditation. Diese kann dir helfen, am Ende eines stressigen Tages wieder zur Ruhe zu kommen. Finde für dich heraus, welche Form der Meditation dir am ehesten zusagt.
  • Mache regelmässig Entspannungsübungen wie beispielsweise die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Solche Übungen können dazu beitragen, die körperliche Überreizung nach unten zu regulieren.
  • Lies Bücher zum Thema Hochsensibilität. Doch nicht alle Bücher sind wissenschaftlich fundiert. Achte daher auf die Qualität und Seriosität der Literatur. Wissenschaftliche Literatur zu Hochsensibilität findest du in dieser Bibliographie.
  • Nutze die Natur als Kraftspender und Ruhepol. Ganz besonders bewährt sich das sogenannte «Waldbaden», bei dem du intensiv in den Wald eintauchst und ihn mit allen Sinnen wahrnimmst. Untersuchungen haben belegt, dass der Aufenthalt im Wald Stress abbaut, den Blutdruck senkt und sich dadurch im Menschen Ruhe einstellt.
  • Achte auf eine bewusste Atmung. Unser Atem ist unser Lebenselixier. Falsche oder zu flache Atmung können zu psychischen oder körperlichen Beschwerden führen, weil der Organismus dadurch nicht in optimaler Weise mit Sauerstoff versorgt wird.
  • Höre dir beruhigende oder stimmungsanhebende Musik an. Die Hirnforschung hat gezeigt, dass bestimmte Musikfrequenzen emotionale Stimmungen und Zustände beeinflussen können. Positive Resultate konnten bei Depressionen, zum Zwecke der Entspannung und beim Lernen nachgewiesen werden.

 

 

Referenzen
Aron, E. N. (2022). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (16. Auflage). mvgverlag.
Aron, E. N., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345–368.
Schröder, T. (2022). Hochsensibilität – Definition, Forschung, Status quo. In T. Schröder (Hrsg.), Hochsensibilität – Jobchance oder Karrierekiller in der VUCA-Welt (S. 5–23). Springer Link. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37987-2_2
Roemer, C. (2021). Abenteuerlustig & hochsensibel. In Essentials. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35074-1

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