Wenn die Corona-Massnahmen fallen und die Rückkehr zur Normalität nicht nur Freude und Erleichterung auslöst

Neue Normalität

Ein Ende der Corona-Pandemie ist in Sicht. Alle Zeichen stehen momentan auf Grün. Die Massnahmen sind gefallen. Viele Menschen freuen sich auf die zurückgewonnenen Freiheiten. Freust du dich auch? Trotz den positiven Aussichten gibt es manche Personen, bei denen gemischte Gefühle aufkommen. Was ist meine neue Normalität? Wie sieht mein Alltag nach der Aufhebung aller Massnahmen auf? Wie geht es nun weiter? Vielleicht verspürst du nicht die erwartete Freude, sondern du sorgst dich und hast sogar Angst, nach draussen zu gehen und alles zu machen, was du vor der Pandemie gemacht hast? Mit diesen Sorgen und Ängsten bist du nicht allein. Die schnellen Lockerungen können zu einer Überforderung und Verunsicherung führen. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Cave-Syndrom. Was das ist und was du dagegen tun kannst, erfährst du in diesem Blogbeitrag.

Hat die Pandemie unser Sozialverhalten verändert?

Was klar ist, ist, dass die Pandemie gewisse Verhaltensweisen von uns beeinflusst hat. Beispielsweise die Begrüssungsrituale. Während der Pandemie hat sich niemand mehr die Hände geschüttelt und auch Umarmungen wurden meist ganz gemieden. Neue bis dahin kaum verwendete Rituale wurden etabliert. Es ist ganz normal, dass man sich zur Begrüssung oder Verabschiedung zunickt oder den Ellenbogen hinstreckt. Ebenfalls achten wir bei Begegnungen vermehrt auf einen grösseren räumlichen Abstand. Im Moment ist noch unklar, ob sich diese Verhaltensweisen zwischen Personen wieder zurückbilden oder ob gewisse weiterhin bestehen bleiben. Das wird uns die Zeit zeigen.
Studien, welche die Prosozialität von Personen untersucht haben, kamen zu unterschiedlichen Erkenntnissen. Unter prosozialem Verhalten kannst du dir absichtliche und freiwillige Handlungen vorstellen, die potenziell oder tatsächlich einer anderen Person zugutekommen. Meist sind es Verhaltensweisen, die darauf abzielen sowohl der anderen Person, als auch sich selbst einen Nutzen zu bringen. Zurück zu den Studienergebnissen: Hellmann und Kollegen haben herausgefunden, dass die Prosozialität in der frühen Pandemiephase deutlich zugenommen hat. Dies stimmt mit früheren Befunden, dass Personen in Krisenzeiten prosozialer sind, überein. Allerdings ist es unklar, ob es sich hierbei um eine längerfristige Veränderung handelt, denn solche Eigenschaften lassen sich normalerweise kaum ändern und bestimmt nicht so plötzlich. Es ist anzunehmen, dass sich die Menschen nach der Pandemie wieder weniger prosozial verhalten. Eine andere Studie berichtet, dass Covid-19 einen negativen Einfluss auf die Prosozialität hat. In einer bedrohlichen Situation neigen wir eher dazu, vermehrt auf uns selbst zu achten, das Vertrauen gegenüber anderen Personen nimmt ab und es wird weniger zusammengearbeitet.

Wie du siehst, hat die Pandemie unterschiedliche Einflüsse auf unser Sozialverhalten. Weitere Studien sind notwendig, um verschiedene soziale Verhaltensweisen nach der Pandemie zu untersuchen.

Kannst du dir vorstellen, in vollen Bussen oder Zügen jeden Morgen zur Arbeit zu fahren? Das Büro wieder mit anderen Personen zu teilen? Am Wochenende eng aneinander gedrängt ein Konzert zu besuchen? Nein? Wirst du von unangenehmen Gefühlen geplagt, wenn du nur daran denkst?

Was ist das Cave-Syndrom?

Der Begriff stammt ursprünglich aus den USA. Er wurde nach einer durchgeführten Befragung eingeführt, bei der herausgekommen ist, dass sich rund 49% der Befragten (unabhängig von ihrem Impfstatus) unwohl und unsicher fühlen, wieder zur Normalität zurückzukehren. Bei vielen löst die Vorstellung, ein Leben wie vor der Pandemie zu führen Unbehagen aus. Das Cave-Syndrom (auf Deutsch «Höhlen-Syndrom») beschreibt das Verhalten und Empfinden von Personen, die sich trotz Lockerungen und sinkender Fallzahlen weiterhin lieber zurückziehen und sich zu Hause (in ihrer Höhle) aufhalten. Der Begriff Syndrom klingt erst einmal gleich nach einer Erkrankung, aber du kannst beruhigt sein, falls du nun annimmst, dass du ebenfalls darunter leidest. Es ist nämlich keine Erkrankung, sondern ein völlig normaler Zustand, der nach einer solchen Pandemie auftreten kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer sogenannten Anpassungsverzögerung. Wie viele Personen in der Schweiz betroffen sind, ist noch unklar. Es werden zurzeit erste Daten dazu erhoben.
Wie und wieso entwickelt sich dieser Zustand? Eine gute Frage. Als erstes muss festgehalten werden, dass zu Beginn der Pandemie die eingeführten Massnahmen auch nicht gleich ohne Probleme umgesetzt werden konnten. Es dauerte einige Zeit bis das Maskentragen, das Abstand halten, das vermehrte Zuhausebleiben, das Kontaktreduzieren und das Homeoffice zum Alltag – zur Normalität wurden. Viele haben sich mittlerweile daran gewöhnt, mehr Zeit für sich zu haben und weniger Stress zu erleben. Sehr gut möglich, dass du nebst den negativen Folgen auch positive Auswirkungen der Pandemie erlebt hast, die du nun nicht mehr ändern möchtest.

Die Umstellung von der alten Normalität zum Pandemiealltag hat teilweise viel Anpassung verlangt. Nun befinden wir uns wieder in einem Veränderungszustand. Auch hier ist es normal, dass es erneut einige Zeit dauern kann, bis der neue Alltag zur Normalität wird. Nicht jede und jeder benötigt gleich viel Zeit. Gut möglich, dass es für dich kein Problem darstellt, von heute auf morgen wieder umzustellen. Wenn du selbst nicht betroffen bist, kennst du vielleicht Personen aus deinem Umfeld, denen es nicht ganz so einfach fällt? Achte darauf, dass du ihre Gefühle, Sorgen und Ängste ernst nimmst.

Kurzum: Die dazumal neuen Verhaltensweisen sind während der letzten zwei Jahre zu unseren Gewohnheiten geworden und Gewohnheiten zu ändern, ist bekanntlich keine leichte Aufgabe und benötigt viel Zeit. Alles beim Alten und Bekannten zu belassen, fällt vielen von uns viel einfacher.

Wie kann ich Gewohnheiten ändern und wie lange dauert das?

Gewohnheiten werden durch Wiederholungen, häufiges Ausführen eines Verhaltens gebildet. Es ist ein Lernprozess. Die Studienlage bezüglich der Dauer einer Gewohnheitsbildung ist uneinheitlich. Es gibt Autorinnen und Autoren, die annehmen, dass es im Schnitt 66 Tage dauert. Andere hingegen konnten im Sportbereich herausfinden, dass eine Person mindestens vier Mal die Woche über sechs Wochen lang Sport ausüben muss, bis eine Bewegungsgewohnheit gebildet ist. Allerdings ist es praktisch unmöglich zu sagen, ab welchem Zeitpunkt eine Handlung wirklich eine Gewohnheit ist und wann noch nicht. Denn es gibt kein objektives Kriterium, welches das Vorliegen einer Gewohnheit definiert. Angewendet auf die Covid-19 Pandemie wurde beispielsweise das Maskentragen in öffentlichen Gebäuden zu einer Gewohnheit, weil wir dies über viele Monate immer wieder (beinahe täglich) gemacht und somit gelernt haben. Bis wir beim Betreten eines Einkaufszentrums aus Gewohnheit keine Maske mehr aus der Tasche hervorziehen, wird es noch eine Weile dauern.
Gewohnheiten zu ändern, ist also durchaus möglich. Du kannst sie jedoch nicht von heute auf morgen austauschen, vor allem wenn du an den neuen Gewohnheiten Gefallen gefunden hast und du sie deshalb nicht unbedingt ersetzen möchtest. Wenn du beispielsweise Gefallen am Homeoffice gefunden hast und deine Arbeit gerne weiterhin von zu Hause ausführen möchtest, dann wird es dir schwieriger fallen, dich wieder an den Büroalltag zu gewöhnen als wenn du die Arbeit im Büro bevorzugst.

Tipps für den Umgang mit dem «Cave-Syndrom»

Zuerst möchten wir an dieser Stelle nochmals darauf aufmerksam machen, dass es sich beim Cave-Syndrom nicht um eine Erkrankung handelt. Es ist völlig normal, dass trotz Lockerungen, sinkenden Fallzahlen und verbreitetem Optimismus eine gewisse Unsicherheit bestehen bleibt. Wenn du dich unwohl fühlst und dich die Situation gerade etwas überfordert, dann geh es langsam an. Das Cave-Syndrom geht in den meisten Fällen von alleine wieder weg. Da es sich beim Angewöhnen an die Massnahmen um einen Lernprozess gehandelt hat, ist es nun an der Zeit die Ängste, die mit den neuen Situationen verbunden sind, wieder zu verlernen. Es ist nämlich möglich, Ängste zu verlernen. Meist gelingt dies, indem man sich in genau die Situationen begibt, die einem Angst machen. Dabei wirst du merken, dass es gar nicht so schlimm ist.

Folgende Tipps können dir helfen, mit der herausfordernden Situation umzugehen:

  • Dosiere deine Sozialkontakte: Wenn du nicht eine Person bist, die sofort viele Menschen auf einmal sehen will, dann beginne klein. Triff jemanden für einen Spaziergang oder lade ein paar wenige Freunde zu dir nach Hause ein. Wenn du merkst, dass dir diese Situationen keine Mühe mehr bereiten, kannst du beispielsweise wieder ins Restaurant oder ins Theater gehen. Fühle nach, was dir gut tut und was du machen willst. Wenn du merkst, dass eine Freundin oder ein Freund sich verstärkt zurückzieht und nicht mehr bei Unternehmungen dabei sein will, dann kannst du ihr oder ihm auch helfen, indem du das Thema ansprichst. Schlage Treffen im kleineren Rahmen vor und frage immer wieder, ob sie oder er auch dabei sein will. Akzeptiere auch, wenn du eine Absage erhältst. Hab Geduld und lass nicht locker.
  • Schutzmassnahmen: Bewege dich in einem Umfeld, in dem immer noch auf gewisse Schutzmassnahmen geachtet werden. Du kannst trotz Lockerungen beispielsweise einen Schnelltest durchführen bevor du dich mit anderen triffst oder in gewissen Situationen immer noch eine Maske tragen, obwohl dies nicht vorgeschrieben wird. Du musst nicht gleich alle Massnahmen weglassen, wenn du dich noch nicht wohl genug fühlst. Es kann in deinem Tempo geschehen.
  • Kommunikation: Sehr wichtig: Sprich darüber! Steh zu deinen Sorgen und Ängsten. Äussere sie bei Freunden, Familienmitgliedern oder auch bei deinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen. Wenn du nämlich Treffen absagst, können sie sich fälschlicherweise zurückgewiesen fühlen. Und zudem ist es möglich, dass es einige Mitmenschen gibt, die sich genau gleich fühlen wie du.
  • Abwägen: Vielleicht hast du während der Pandemie gemerkt, dass du gar nicht mehr so viel in deiner Freizeit unternehmen möchtest? Du hast ein neues Hobby entdeckt oder geniesst gerne ruhige Abende allein oder in kleiner Runde? Wäge ab, welche positiven Aspekte du gerne von der Pandemiezeit mitnimmst und weiterhin nicht missen möchtest. Zurück zur Normalität heisst nicht, dass alles wieder wie vor der Pandemie sein muss.
  • Geduld: Hab Geduld mit dir selbst. Erwarte nicht zu viel auf einmal, sondern geh einen Schritt nach dem andern. Es kann durchaus einige Wochen bis Monate dauern, bis du dich wieder an die neue Situation gewöhnt hast.
  • Hol dir Hilfe: Möchtest du raus gehen und dich mit anderen Mitmenschen treffen aber deine Angst ist zu gross? Wenn du dieser Aussage zustimmst, dann besteht der Verdacht, dass es sich nicht mehr nur um eine normale Gefühlslage handelt. Hol dir in dieser Situation professionelle Unterstützung. Du findest hier Angebote und Informationen rund ums Thema «Rat und Hilfe». Hilfe annehmen ist eine Stärke!

 

 

Referenzen:
Gardner, B. (2016, 01. Oktober). Getting into the habit: Applying the science of habit-formation to the real-world. Practical Health Psychology.
Hellmann, D. M., Dorrough, A. R., & Glöckner, A. (2021). Prosocial behavior during the COVID-19 pandemic in Germany. The role of responsibility and vulnerability. Heliyon, 7(9), e08041.
Nebe, T. (2021, Juli). Wann Probleme mit der neuen Lockerheit ganz normal sind - und wann nicht. GEO. https://www.geo.de/wissen/ernaehrung/cave-syndrom--wann-probleme-mit-der-neuen-lockerheit-ganz-normal-sind-30616088.html
Terrier, C., Chen, D. L., & Sutter, M. (2021). COVID-19 within families amplifies the prosociality gap between adolescents of high and low socioeconomic status. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118(46). https://doi.org/10.1073/pnas.2110891118
Ruoff, K. (2021, Juli). Wenn die Normalität Angst macht. Tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/corona-cave-syndrom-101.html

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